Das Grundstück des eingestürzten Historischen Archivs

 

von Hiltrud Kier

 

Am 3. März 2009 stürzte das Historische Archiv der Stadt Köln an der Severinstraße im Zuge des U-Bahn-Baus ein und tötete dabei zwei junge Männer.
Wer genau die Schuld dafür trägt, wird sicher erst in Jahren oder Jahrzehnten ermittelt sein und es ist natürlich müßig, beim Jammern darüber stehen zu bleiben. Trotzdem darf in diesem Zusammenhang noch einmal die grundsätzliche Feststellung getroffen werden, dass der Bau dieser U-Bahn-Linie absolut unnötig war und die dadurch in Nord-Süd-Richtung aufgebrochene und unterhöhlte Altstadt von Köln insgesamt schwer beeinträchtigt hat. Dies betrifft insbesondere die wichtigen historischen Bauten: das Rathaus, die Kirchen St. Maria im Kapitol, St. Georg, St. Johann Baptist und St. Severin. Das Menetekel des schiefen Turmes von St. Johann Baptist stand am Anfang, die Risse im Langhaus von St. Maria im Kapitol folgten, wo insbesondere das im Zweiten Weltkrieg noch verschonte Nordseitenschiff beeinträchtigt ist sowie unmittelbar und bleibend vor allem St. Georg, unter dessen Westchor ein Teil der U-Bahn-Röhre führt. Dieser absolut sorglose Umgang der Planer mit den historischen Bauten fand seinen Höhepunkt mit der Anlage der besonders tiefen Grube in der Severinstraße zwischen Historischem Archiv der Stadt Köln und dem Friedrich-Wilhelm-Gymnasium. Ob die nach dem Einsturz geäußerte Vermutung stimmt, dass man diese ungeheure und zweifellos riskante Ausschachtung bewusst zwischen zwei städtische Liegenschaften legte und nicht weiter südlich zwischen Privatgrundstücke, sei dahingestellt. Auf jeden Fall stand nicht die Sorge um die einmaligen kulturellen Bestände des Archivs im Vordergrund, und ob man sich besondere Gedanken und Sorgen um die Schulkinder gemacht hatte, wäre wohl noch zu überprüfen.

 

St. Georg und sein Pfarrer Hermann-Josef Reuther waren nach dem  Einsturz des Archivs eine erste Auffangstation für die Menschen dieser Gegend, die in ihrem Schock und ihrer seelischen Not unbedingt der Zuwendung bedurften. Dabei galt die Sorge des Pfarrers natürlich auch der eigenen Kirche, aus der er zunächst sicherheitshalber die wichtigsten Kunstwerke, wie zum Beispiel den Gabelkruzifixus, entfernen ließ.

 

Inzwischen sind drei Jahre vergangen. An der Sortierung der zu großen Teilen geborgenen Bestände des Archivs, die in fast 20 bundesweit gelegenen Asylarchiven verstreut sind, wird fieberhaft gearbeitet und auch die Jahrzehnte dauernde Restaurierung hat in den in Poll eingerichteten Räumen begonnen. Die Stadt Köln tritt für diese Kosten mustergültig in Vorleistung und hofft auf spätere Rückerstattung durch den Schuldigen. Dabei sind die Kosten für die Wiederherstellung der Archivbestände der kleinere Betrag im Verhältnis zu den zusätzlichen U-Bahn-Ausgaben. Der schon vor dem Archiveinsturz angedachte Neubau des Archivs ist inzwischen am Luxemburger Wall durch einen Architekten-Wettbewerb festgelegt, kann aber nach jetziger Planung erst 2017 fertig gestellt sein – gegebenenfalls erst später, wenn man um die Unwägbarkeiten gerade bei öffentlichen Bauaufgaben weiß. Diese so verspätete Fertigstellung des Archivneubaus ist besonders für die zahlreichen Nachlass- und Vorlassgeber sehr tragisch, da die meisten nicht mehr die Jüngsten sind und eigentlich schon sehnsüchtig auf die Wiedervereinigung der geborgenen Bestände warten, die aber erst im fertiggestellten und bezogenen Archiv-Neubau erfolgen kann.

 

Die Wieder-Bebauung des ehemaligen Archivgrundstückes südlich von St. Georg an der Severinstraße wird geplant und soll nach Schließung des U-Bahn-Loches erfolgen. Gedacht ist, nachdem die Wünsche nach Flächen der beiden angrenzenden Schulen befriedigt wurden, an eine maßstäblich sich einfügende Wohnbebauung mit irgendwie integriertem Gedenkraum.
Hier stellt sich die Frage, ob nicht die Chance ergriffen werden sollte, dass die Bevölkerung von Köln den Schock, das Trauma und die Trauer um den Verlust von zwei Menschen und das Versinken ihrer historischen Überlieferung angemessen bewältigen kann. Schließlich geht es auch um die Tatsache, dass die geborgenen Bestände des Archivs noch Jahrzehnte der Restaurierung brauchen und daher für die Gegenwärtigen nicht mehr zur Verfügung stehen werden. In dieser Stadt werden so viele Wettbewerbe durchgeführt, Pläne oder Gutachten in Auftrag gegeben, die erkennbar tatsächliche Aktivitäten ersetzen oder verschleiern sollen. Warum dann nicht auch einmal im produktiven Sinn durch breit ausgelobte und dementsprechend zu diskutierende Wettbewerbe für dieses besondere Grundstück die Fähigkeit zu Trauer und Einsicht zeigen? Und dabei Anregungen bekommen, die niemand sich heute denken kann. Warum die Wunde so schnell schließen wollen, während die Heilung von „Entzündung“ und „Eiter“ noch nicht erfolgt ist? Das Bewusstsein, dass dieser Archiveinsturz eine Katastrophe ungeheuren Ausmaßes darstellt, ist in Köln stärker präsent, als dies sonst bei normalen Unglücksfällen zu beobachten ist, die die Bevölkerung hier ja mit vielfach bewundernswerter Ruhe verkraftet.
Die Katastrophe des Zweiten Weltkriegs, der nicht nur von Deutschland ausging, sondern auch die von deutschen Militärs ausgedachte Strategie der Vernichtung der kulturellen Identität des Gegners durch Flächenbombardements brachte, wie sie die Londoner City oder Rotterdam trafen, musste Köln mit der Bombardierung seiner kulturellen Mitte schwer büßen. Die danach sich ergebenden Gedenkstätten, wie die Ruine von Alt-St. Alban und insbesondere auch der Kreuzhof von St. Georg, sind von jener beeindruckenden Qualität, die man sich für das Gedenken an den Archiveinsturz vom 3. März 2009 auch erhoffen würde.

 

Juni 2012

 

© Hiltrud Kier